DER ELEMENTARGEIST HUN: HOLZ-ELEMENT
In der TCM gibt es eine komplexe Psychologie, die in einer simplen Bildsprache auf den Punkt gebracht wird. Die Serie widmet sich den sogenannten Elementargeistern. Dieses Mal: Hun.
Hun ist ein Überbegriff für die psychologische Komponente des Holz-Elements. Hun wird gemeinhin als die Wanderseele bezeichnet und steht in Opposition zur dem Metall-Element zugeordneten Körperseele Po, deren Aufgabenbereich der Schutz und die Instandhaltung der physischen Ebene ist. Po ist schwer, Po ist stabil. Da ist der Hun schon wesentlich feinstofflicher und flüchtiger: Daher ja auch die Bezeichnung Wanderseele. Das entspricht dem Yang-Charakter des Frühlings. Yang ist Bewegung und Energie. Yin ist Stabilität und Materie. Yang kehrt immer zum Yang zurück. Yin kehrt immer zum Yin zurück. Asche zu Asche. Staub zu Staub. Während sich die Körperseele Po mit unserem Tod auflöst, wandert die Wanderseele einfach weiter, je nach Glaubenssystem von einer Inkarnation zur nächsten. Mit auf diese Reise nimmt sie den gesamten Erfahrungsschatz, den sie bereits gemacht hat. Weiters nimmt sie mit: Den großen Masterplan. Was ist unsere Aufgabe?
Was ist unsere Bestimmung? Was ist der Inhalt unseres Lebens? Das sind wesentliche Fragen.
Aus deren Beantwortung heraus konkrete Bilder und greifbare Visionen entstehen zu lassen, denen wir in diesem Leben folgen können, das ist die Kernaufgabe des Hun. Somit übernimmt die Wanderseele wie auch der Po eine Art Schutz und Instandhaltungsfunktion: Für unseren Geist, für unsere Emotionen. Warum?
Das Holz-Element will wachsen und sich entfalten. Es setzt alles daran, dies zu tun. Aber es braucht eine Richtung. Sonst zerstreut es seine Kraft und verliert sich. Es braucht einen Plan. Eine Orientierung. Der so sehr für das Holz-Element als Symbol geltende Keimling hat diesen Plan in seinem Samen enthalten. Der Samen enthält die Blaupause für die voll entfaltete Pflanze. Der Samen trägt den fertigen Baum, den fertigen Strauch oder die fertige Blume bereits in sich. Auch wir tragen einen derartigen Plan in uns, den Seelenplan, des volle Potential, das wir in diesem Leben abrufen könnten, das wir abrufen sollten, weil wir sonst kein Baum werden, sonst lediglich ein Bonsai, eine Miniaturausgabe unserer selbst. Um ein Potential umzusetzen, muss man es zuerst (er)kennen. Hier kommt uns die Sinnesfunktion des Holz-Elements zu Hilfe, das Sehen.
Die Augen sind das Werkzeug des Hun. Es gilt diese bewusst einzusetzen. Mit den Augen können wir nach außen und nach innen blicken.
Zu Beginn unserer Erdenreise ist der Fokus allerdings stark nach außen gerichtet. Mit gutem Grund: Kleine Kinder lernen primär durch Nachahmen. Hier spielt der Sehsinn eine entscheidende Rolle. Copy & Paste, was rund um Kleinkind geschieht, Copy & Paste, was Kleinkind sieht. Der Hun nimmt alle Eindrücke und Bilder auf und speichert diese ab. Alle Eindrücke. Der Hun kann nicht filtern, er saugt alles auf wie ein Schwamm. Immer wiederkehrende Eindrücke überlagern sich zu Mustern: Zum Beispiel, dass es zuhause gleichbleibende Personen als Bezugsrahmen gibt. Dass man schläft, wenn es dunkel ist. Dass man sich auch auf zwei Beinen bewegen kann. Nach und nach bekommen diese Muster eine Ordnung, Sinn und Namen: Eltern. Nacht. Gehen. Das Kind lernt. Dieses Lernen ermöglicht Orientierung. Um das Rad nicht immer von neuem zu erfinden, werden die Lernerfahrungen praktischerweise abgespeichert: In der dem Holz-Element zugeordneten Leber und in der von der Leber verwaltenden Körpersubstanz Blut.
Wir werden immer mehr zu einer individuellen Persönlichkeit aus Fleisch und Blut. Der Hun wird daher auch als Speicherbewusstsein bezeichnet.
Es macht natürlich Sinn, diesen Speicher zuerst mit den Eindrücken zu füllen, die eine rasche Überlebensfähigkeit sicherstellen. In der TCM spricht man diesbezüglich von drei Aspekten des Hun. Der Sheng Hun steht für das Basislebensprinzip. Er ist der Speicher der Erinnerung, die in jeder Zelle lebt, die ihr sagt, was zu tun ist, wann und wo und wie sie sich zu teilen hat und welche Aufgabe sie im Gesamtsystem einnimmt. Diese Form des Speichers ist in Menschen, Tieren und Pflanzen gleichermaßen zu finden. Der Jiao Hun entspricht Instinkten und Gefühlen, er findet sich in Menschen und Tieren und sorgt zum Beispiel dafür, dass der Mund nach der Geburt von selbst zur Brust findet. Der Ling Hun ist der Hun, der die Menschen von allen anderen Lebewesen unterscheidet. Der Ling Hung steht für die schöpferische Kraft, für das Potential des menschlichen Geistes.
Mit dem Ling Hun wird es allerdings auch heikel: Als genauso neugierige wie begierige Lerninstanz, speichert der Hun alles, was er aufnehmen kann, nicht nur visuelle Eindrücke, sondern auch jede andere Form von sinnlichen Erlebnissen sowie Gefühle und Erfahrungen. Viele davon sind bewusst gemacht. Der größte Teil davon ist jedoch unbewusst. Der Hun ahmt nach, was ihm die Umwelt vormacht. Er verinnerlicht die Werte und Handlungsweisen der Bezugspersonen genauso wie soziale und religiöse Einflüsse. Alle auf das werdende Wesen herein prasselnden Eindrücke und Informationen formen es. Alle Erfahrungen werden somit zum Bestandteil der Gefühle, der Denkmuster, der Verhaltensweisen, des Charakters…
Um was es bei dem Hun nun wirklich geht: Mit welcher Ebene des Speicherbewusstseins steht er in Verbindung?
Welche Ebene des Speicherbewusstseins liefert die Bilder und die Erinnerungen, anhand deren der Alltag erfasst und erlebt wird? Welche Ebene des Speicherbewusstseins formt und kreiert den Masterplan der eigenen Existenz? Der Masterplan steckt den Rahmen ab, in dem wir uns bewegen. Der Hun ist der Nährboden für unser bewusstes Sein, für unser Bewusstsein. Wir sehen und erkennen im Außen, was wir in uns tragen.
Im Idealfall steht der Hun mit der tiefsten ihm zugänglichen Ebene in Verbindung. Diese Ebene repräsentiert das Wasser-Element. Wasser kehrt immer zu seinem Ursprung zurück. Das Wasser-Element steht für unseren Ursprung, für unser innerstes Samenkorn, in dem alles angelegt ist, was uns möglich ist. Der Hun entscheidet, ob daraus ein gewaltiger Baum in voller Blüte wird. Oder ein mickriges Etwas, das nur im entferntesten daran erinnert, was es eigentlich sein könnte. Entspricht unser Samenkorn einem Mammutbaum, unsere Eltern führten jedoch das Leben eines Zwergginkos und das soziale wie kulturelle Umfeld ließ kaum Bäume über einen Meter Wuchshöhe zu, dann tendieren wir mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls zum Zwergginko, ganz einfach, weil es das ist, was der Hun kopiert hat, weil er im Rahmen seiner Werdunggeschichte eine zu lange Zeit nicht im Kern seines Speicherbewusstseins, sondern in dem verwurzelt war, was sich Schicht für Schicht darüber gelegt hat. Das wird man so schnell nicht wieder los. Und wird man es nicht los, dann wird man früher oder später wie die Eltern und die umgebende Allgemeinheit. Dieselben Vorlieben. Dieselben Abneigungen. Dieselben Fehler. Dieselben Grenzen. History repeats. Konditionierung statt schöpferische Kraft. Reaktion statt Aktion.
Natürlich: Das kreiert ein Gefühl von Sicherheit und Orientierung. Man weiß, wer man ist und was man zu tun hat.
Das Holz-Element bekommt seine Richtung. Tief im Kern spürt man jedoch: So nicht, so werde ich nicht wirklich glücklich, so bin ich weit von der Frühlingsenergie entfernt, für die ein sich wirklich entfaltender Hun steht. Die Aufgabe des Hun in uns besteht darin, uns an uns selbst zu erinnern. Der Hun ist der Phantast, der Träumer, der Hüter des in uns schlummernden Traumes. Dort, wo wir uns wirklich sehen könnten, wenn alles möglich wäre, dort ist der Hun zuhause. Der Hun ist der wahre Kompass der Seele. Folgen wir ihm nicht, erleiden wir früher oder später Schiffbruch. Oder erleben das Leben als einen nicht endend wollenden Gegenwind. Dabei sollte der Hun für Rückenwind sorgen. Hier kommen wieder die Augen mit ins Spiel. Man muss sie schließen, um die Botschaft des Hun zu sehen. Man muss unterscheiden zwischen Alltagskoordinaten und Seelenkoordinaten. Die Alltagskoordinationen manövrieren uns reibungsfrei durch den Alltag, die Seelenkoordinaten durch das Leben. Zeit für Innenschau.
Bevorzugt klopft der Hun des Nächtens an unsere Tür, dann, wenn sich das Speicherbewusstsein von den Resten des Tages entledigt hat, wenn sich die Bilder der oberflächlich erlebten Eindrücke entladen haben und die Magie die Bühne der Träume betritt. Im Traum ist alles möglich. Im Traum können wir fliegen, zaubern, uns verwandeln und Luftschlösser errichten. Im Traum macht sich das Unbewusste bewusst. Im Traum zeigen sich die Möglichkeiten des Hun. Wie sich auch in der Kindheit, in der Holzphase des Lebens, die Freiheit des Huns zeigt: In der Kindheit ist noch alles möglich. Der Hun kann Träume Realität werden lassen.
Er stellt alle dazu notwendigen Ressourcen bereit, wie auch der Frühling alle Ressourcen bereit stellt, um Wachstum zu ermöglichen.
Der Hun versorgt uns mit großen Visionen. Der Hun macht daraus einen Plan. Der Hun stellt die erforderliche Aggression dahinter, so dass die Umsetzung auch wirklich geschehen kann. Und er ist im Übermaß mit den Gaben der Kreativität und Flexibilität gesegnet, um die Pläne entsprechend den Umständen derart anzupassen, dass man auf Zielkurs bleibt. Der freie Hun hat stets das Bild des großen Baumes vor den Augen, das er sein könnte, und dafür kann er, wie in der Natur zu beobachten, sogar Beton durchbrechen. Fehlt ihm dieses Bild, dann fehlt ihm wohl wichtigste Orientierung im Leben. Dann macht er mal dies, mal das. Dann macht er, was andere von ihm wollen. Oder aber: Er kriegt gar nichts auf die Reihe. Manchen Personen fehlt sogar der Alltagskompass. In der TCM sagt man: Vielleicht sind die Leber oder das Blut zu schwach, um den Hun zu stabilisieren. Dann wird er zum Fähnchen im Wind. Das ganze Leben: Ohne Richtung. Chaos macht sich breit. Chaos im Haushalt, Chaos im Beziehungsleben, Chaos im beruflichen Ausdruck. Ruft das Frühlingsgefühle hervor? Mitnichten. Kein Wunder also, dass Frustration ebenso zum Holz-Element gezählt wird. Man versauert. Die Wanderseele blüht auf, wenn ihre Wanderung zur vollen Entfaltung führt. Dafür steht der Hun.
Aus dieser Serie:
– DAS FEUER-ELEMENT UND DER SHEN
– DAS METALL-ELEMENT UND DER PO
– DAS WASSER-ELEMENT UND DER ZHI
„MERIDIANE – LANDKARTEN DER SEELE“
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