Die obere Adria ist völlig zu Recht Österreichs beliebteste Urlaubsbadewanne. Der Hochsommer gehört den Familien. Bleiben noch drei Jahreszeiten, in denen man auf Entdeckungsreise gehen kann.
Text & Bild: Mike Mandl
Italienurlaub wie immer, man weiß sofort, was damit gemeint ist: Fröhliche Reihen mit Sonnenschirmen vor einem flachen Meer, das an ein harmloses Plantschbecken im Ruhestand erinnert. Dazwischen Krabben, Sandburgen, Algen, fliegende Boccia-Kugeln, Babies, Kinder, Eltern, Großeltern und der omnipräsente Mann mit den stets frischen Kokosnüssen. Dem obligatorischen Sonnenbrand folgt das farbenfrohe Gelato, dem Cappuccino der Aperol und der Pizza Frutti die Mare das abendliche Flanieren zwischen Spielzeug, Spielhallen und Designermode. Das war schon vor 40 Jahren so. Das ist immer noch so. Und das ist auch gut so.
Urlaub an der oberen Adria ist so abenteuerlich und überraschend wie der Kauf eins Automaten-Kaffees. Man weiß genau, was man bekommt. Man weiß genau, dass es spannendere Städte, schönere Strände gibt. Man weiß es. Und entscheidet sich trotzdem anders. Immer und immer wieder. Warum? Weil man an der oberen Adria etwas findet, dass an den meisten Destinationen verloren gegangen zu sein scheint: Urlaub. Unaufgeregten, unkomplizierten, unbemühten, einfachen, ehrlichen Urlaub. Erreichbar in weniger als fünf Stunden. Einen Urlaub, in dem nichts sein muss, weil alles perfekt ist, wie es ist, wie es war. Die obere Adria ist wie eine Beruhigungspille für manisches Reisefieber. Hier geht es nicht ums Davonlaufen. Hier geht es ums Ankommen. Die obere Adria empfängt ihre Gäste ohne aufdringlich zu sein, ohne etwas darstellen zu wollen. Dieser Gleichmut verleiht ihr einen sehr speziellen Charme, der verführt, zum Loslassen, zum Entspannen, zum Sein, wie man ist. Denn buhlen die Rahmenbedingungen nicht kontinuierlich um Aufmerksamkeit, ist mehr Raum für das vorhandene Innenleben. Familien sind Familien. Eltern sind Eltern. Kinder sind Kinder. Alles echt, alles gut, alles schön.
Aber der Klassiker am Meer kann mehr. Besonders zu empfehlen: Das Frühjahr, wenn die würdevolle alte Dame Adria aus ihrer Winterruhe erwacht, verschlafen und ungeschminkt. Man sieht ihr die Zeichen der Zeit an, aber sie trägt diese mit Stolz, mit Charakter, weil die Zeichen Geschichten erzählen, Millionen von Geschichten, die in den leeren Straßen und den leeren Stränden zu Leben erwachen. Dazu die Sonne, die an guten Tagen bereits ihre volle Kraft aufblitzen lässt, das Meer, dass sich gerne noch einmal austobt, bevor es auf den sommerlichen Kindermodus umschaltet und die Pinienwälder, die ihren harzigen Duft verströmen. Poesie liegt in der Luft. Der Zauber des Anfangs. Man muss sich nur entscheiden wo…
#1 Lignano: Italiens Florida
Jede Stadt hat ihre Clique. Es gibt die Jesolo-Jünger. Die Bibione-Pilger. Und die Lignano-Fraktion. Jeder weiß natürlich, dass es in „seiner Stadt“ am schönsten ist und sich die anderen irren. Das ist menschlich, das gehört dazu. Nur: In Lignano ist es wirklich am schönsten. Nicht in Sabbiadoro, dem vorderen, lebhafteren Drittel, das zur Hochsaison den Sangria-Eimern mit Anhang gehört, nein, am schönsten ist es in Riviera, dem letzten Drittel des über 100 Jahre alten Badeortes, hier gibt es nur kleinere Hotels und chaletartige Apartmenthäuser, die sich im lockeren Pinienwald verlieren. Hier habe ich das erste Mal Sand außerhalb der Kiste kennengelernt, hier habe ich das erste Mal Salzwasser geschluckt, hier habe ich das erste Mal dem Tod ins Auge gesehen, als ich mir an einer miesen Muschel den Fuß aufschnitt, hier habe ich das erste Mal mein Herz im Sommer verloren, mit neun Jahren, an die zehnjährige Birgitta, die wesentlich süßer war als ihr Name. Die Romance war groß, die Romance war intensiv und sie hätte sogar den hier omnipräsenten Hemingway für einen weiteren Bestseller inspirieren können, wären wir dem Großmeister in einem Zeitloch begegnet. Wobei Ernest das Hinterland bevorzugte, zum Jagen. Diese paradiesische Wasserwelt aus Lagunen, Kanälen, Schilf und Landflecken hatte es ihm angetan. Wunderschön. Romantisch. Nachzulesen in „Über den Fluss und in die Wälder“. Unbedingt nachzuforschen mit dem Rad oder dem Boot, am Vormittag, weil der Nachmittag, der gehört dem Strand, das ist Gesetz, auch in der Vorsaison. Entweder man spaziert in Richtung Tagliamento, der unsere Anreise schon im Kanaltal begleitet hat und sich hier pittoresk ins Meer ergießt. Oder in Richtung Pineta, dem mittleren Drittel von Lignano, dessen Straßen vom Zentrum ausgehend spiralförmig nach außen gehen. Wir wollen aber nicht ins Zentrum, wir wollen auf den Steg, auf den im Sommer alle hinaus wollen, den wir jetzt aber nur für uns allein haben, hinaus aufs Meer, auf die Pagoda, weil wenn der Wind die Wolken über das Wasser jagt, die Wellen unter den Füßen durchrauschen, dann schließt sich der Kreis, dann sind die Schmetterlinge wieder da, die Schmetterlinge, die ich als Kind verspürte, wenn es hieß: Wir fahren nach Lignano.