Als Immunität kann man die Summe aller Abwehrmechanismen verstehen, die es unserem System ermöglichen, sich gegenüber krankmachenden Einflüssen zu schützen. Nur: Wie können wir diesen so wichtigen Wirkmechanismus für unsere Gesundheit gezielt fördern und stärken? Die Traditionelle Chinesische Medizin liefert diesbezüglich wertvolle Ansätze.
Wer kennt das nicht? Meist ab Mitte September rollt die erste Infektionswelle durch das Land, ob Husten, Schnupfen oder andere virale Erkrankungen. Die Tage sind nun deutlich kürzer geworden. Die Temperaturen gehen nach unten. Der Sommer und die große Hitze sind Vergangenheit. Die TCM sieht das ziemlich pragmatisch: Trifft die erste äußere Kälte auf vorhandene innere Kälte, dann ist das Endresultat eine Erkältung. Und so kann es den ganzen Herbst und Winter hindurch weitergehen. Dagegen lässt sich leicht ansteuern. Aber was ist nun innere Kälte? Wie kommt dieses Phänomen zustande? Und was hat das alles mit unserem Immunsystem zu tun? Die TCM ergänzt hier das westliche Wissen um unsere Abwehrkraft mit spannenden Impulsen, die sich in der Praxis sehr bewährt haben. Sowohl präventiv als auch im Akutfall. Dazu müssen wir uns vorab aber mit ein paar Begrifflichkeiten und Denkanstößen auseinandersetzen.
Die Sache mit den Qi
Beschäftigt man sich mit asiatischen Heilweisen oder Körperkünsten, stolpert man unweigerlich über den Begriff Qi. Qi wird gemeinhin als Energie oder Lebensenergie übersetzt. Qi hat aber viele Gesichter und ist nicht so abstrakt und mystisch, wie zu vermuten wäre. Zum einen wird der Terminus Qi gerne verwendet, um Dynamiken und Zusammenhänge in unserem Körper zu beschreiben. Spricht die TCM von Immunität, dann spricht sich von dem Wei Qi, auch Abwehrenergie genannt. Die Bezeichnung Wei Qi umfasst mehrere Prozesse, die dazu beitragen, den Körper gesund und vital – also abwehrstark – zu halten. Dazu zählen Aspekte der Ernährung, Aspekte des Stressmanagements und Aspekte der Bewegung.
In unserem Kulturkreis würden wir diesbezüglich den Ausdruck Vitalität ins Spiel bringen. Das Wort Vitalität wurzelt im Lateinischen und bedeutet „Leben erhaltend“, „Lebenskraft habend“ oder „Lebenskraft gebend“. Die Medizin versteht unter Vitalität die übergreifende physische und psychische Systemleistung eines Menschen und meint damit genau dasselbe wie die TCM: Wie gut läuft das Werk Mensch? Wie gut funktionieren die Organe? Wie gut funktioniert das Nervensystem? Wie gut funktioniert die Muskulatur? Aber auch: Wie zufriedenstellend ist der emotionale Status? Wie sieht es mit dem allgemeinen Wohlbefinden aus? All diese Faktoren haben einen Einfluss auf unsere Vitalität, auf unser Qi und natürlich auch auf unsere Immunität.
Zum anderen wird mit den Begriff Qi beschrieben, wie sich bestimmte Impulse auf unseren Organismus auswirken. Springen wir daher gleich einmal zum Thema Ernährung, das die wichtigste Säule für den Aufbau von Wei Qi ist…
Das thermische Qi der Nahrung
Es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen der westlichen und der östlichen Betrachtung von Nahrungsmitteln. Bei der westlichen Betrachtungsweise liegt der Fokus auf der quantitativen Aufschlüsselung einzelner Inhaltsstoffe. Es geht um die Fragen: Was ist drin? Wie viel davon ist drin? Das Resultat: Exakte Werte in Bezug auf Kohlenhydrat-, Fett- und Eiweißgehalt. Exakte Werte in Bezug auf Vitamine, Spurenelemente, Mineralien oder sekundäre Pflanzenstoffe. Besonders positive Effekte einzelner Bestandteile werden hervorgehoben und in den Mittelpunkt gestellt.
Man denke an das viel propagierte Vitamin C in Südfrüchten, vor allem in Bezug auf unsere Abwehrkraft. Der Konsum von Vitamin C in infektiösen Zeiten ist daher hoch. Gerne mittels Orangensaft und Konsortien. Einen wirklich vorbeugenden Effekt in Bezug auf Erkältungskrankheiten gibt es dadurch jedoch nicht. Oft ist sogar das Gegenteil der Fall. Denn Einzelwirkungen sagen nur bedingt etwas über die Summe der Gesamtwirkung. Und die ist im Fall von Südfrüchten laut TCM thermisch kalt. Damit ist gemeint, dass sie auf den Organismus einen kühlenden und erfrischenden Einfluss haben. Das ist auch ihre Aufgabe. Im Denken der TCM ist die Natur die vernünftigste Apotheke der Welt: Sie liefert uns zu jeder Jahreszeit vorwiegende jene Nahrungsmittel und Kräuter, die uns helfen, uns auf die Herausforderungen unserer Umgebung abzustimmen.
Südfrüchte gedeihen in vorwiegend warmen und heißen Ländern. Sie helfen den dort lebenden Menschen, die klimatischen Einflüsse auszubalancieren. Weil sie eben thermisch kalt sind. Man spricht in der TCM von der thermischen Wirkung oder der thermischen Energie, die in jedem Nahrungsmittel vorhanden ist und eine direkte Auswirkung auf die Wärmeregulation des Organismus hat. Die thermische Energie wird in der TCM in fünf Kategorien eingeteilt: Es gibt kalte, erfrischende, neutrale, wärmende und heiße Lebensmittel.
Generell lässt sich sagen: In heißen Ländern oder Jahreszeiten gedeihen mehr kühlende, in kalten Ländern oder Jahreszeiten mehr wärmende Nahrungsmittel. In Ländern mit geringer oder ausbleibender Vegetationsperiode rücken tierische Produkte in den Mittelpunkt. Diese haben einen wärmenden Charakter sowie einen hohen Gehalt an Energie und werden bei der Zubereitung meist noch weiter erhitzt, was ihren thermischen Charakter zusätzlich verstärkt. Wenn Orangen die Badehosen unter den Lebensmitteln sind, dann ist das gegrillte und stark gewürzte Stück Fleisch die Daunenjacke. Man sollte diese essbaren Kleidungsstücke genauso wählen, wie man das mit dem Alltagsgewand auch macht. Es gibt eine Sommergarderobe. Es gibt eine Wintergarderobe. Die TCM lehrt uns, beide nicht zu verwechseln…
Innere Kälte
Zurück zum Start. Wir befinden uns im Spätsommer und die erste Kältewelle feiert ihren Einstand. Wer würde da mit der Badehose nach draußen gehen? Würden wir uns dann wirklich wundern, wenn wir uns erkälten? Greifen wir in Bezug auf unsere Ernährung bei geringeren Temperaturen trotzdem auf die Sommergarderobe zurück, dann stellt sich ein ähnlicher Effekt ein. Wir erkälten uns. Allerdings direkt im Verdauungstrakt. In diesem kann sich als Folge davon innere Kälte aufbauen. So wie in einem Haus, das einfach nicht geheizt wird. Auch dieses wird äußerer Kälte wenig gegenüberstellen können…
Unsere Sommerernährung passt perfekt zu den Anforderungen der Jahreszeit. Viel Obst, viel Salat, viele kalte Getränke und ab und an ein Eis, ja warum denn auch nicht! Nur sollen wir rechtzeitig beginnen, diesen abkühlenden Ernährungsstil zu ändern, wenn wir für den Herbst eine vitale Immunität erwerben wollen. Denn steckt die Kälte erst einmal im System, lässt sie sich nicht mehr so leicht vertreiben. Die beliebte Basis für den O-O Schnupfen, von Oktober bis Ostern.
Und im Endeffekt ist und war dieses Wissen immer auch im heimischen Erfahrungsschatz vorhanden. Ein saftiger Apfel im Sommer erfrischt wunderbar. Denselben Apfel bereiten wir im Winter jedoch lieber als Bratapfel zu, im Backrohr, mit vielen wärmenden Gewürzen, ganz einfach, um den kühlenden Effekt zu balancieren. Knallt sie Sonne vom Himmel, ist der säuerliche Weißwein mit Mineralwasser ein herrlicher Durstlöscher. Klopfen die klammen Finger des Winters an die Tür, wirft ein Glühwein die innere Heizung an. Und sollte uns wirklich eine Erkältung erwischt haben, dann trinken wir gerne Tees, die uns kräftig schwitzen lassen, um die eingedrungen Kälte rasch aus dem Körper zu treiben. Ost und West bauen hier auf dieselben empirischen Beobachtungen auf. Wie können wir diese Zusammenhänge nun gezielt nützen, um unsere Abwehrenergie Wei Qi gezielt zu stärken?
Drei Organe, ein Ziel
In der TCM sind vor allem drei Organe für die Kraft unseres Immunsystem verantwortlich: Die Milz, die Niere und die Lunge, wobei anzumerken ist, dass der Begriff Milz in der TCM als Synonym für den gesamten Verdauungstrakt steht und dieser die Basis des Abwehrsystems bildet. Er kann wie der zentrale Ofen im Haus unseres Körpers gesehen werden. Funktioniert dieser gut, dann produziert er ausreichend Energie und Wärme und Energie und Wärme sind der beste Schutz gegen widrige Einflüsse von außen. Funktioniert er nicht gut, dann gibt es Kennzeichen dafür, wie zum Beispiel Kältezonen im Körper. Gerne an den Füßen, den Händen, am Gesäß, der Nasenspitze oder auch an genereller Kälteaversion. Kaltnasen schlafen bevorzugt mit Socken oder dicker Decken. Und der Mangel an Energie kann sich in Müdigkeit, Lustlosigkeit oder mangelnder Willenskraft ausdrücken. In der TCM alles Anzeichen, dass der Ofen Milz suboptimal funktioniert. Was vor allem am Brennstoff liegt.
Als generelle Empfehlung kann gelten: Ab Mitte August kalte und kühle Nahrungsmittel vermeiden. Denn ab Mitte August können sich schon die ersten Vorboten des Herbsts bemerkbar machen. Ab und an findet sich schon Tau auf der Wiese. Die Luft wird klarer. Sprich: Zeit den Ofen aktiv zu machen. Thermisch kühl sind aber nicht nur die klassischen Sommergemüse, sondern auch Milchprodukte wie vom allem Joghurt, Topfen, Sojaprodukte oder Tiefkühlkost. Denn es geht auch um die Kunst der Zubereitung. Tiefkühlkost aus der Mikrowelle tut dem Ofen nicht gut. Zu vergleichen mit einem Elektroradiator und einem knisternden Kamin. Beides gibt Wärme ab. Aber nur eine davon ist wirklich lebendig und durchdringend
Daher: Je tiefer wir in den Herbst eindringen, desto kräftiger kann aufgekocht werden. Lang gekochte Suppen mit viel Wurzelgemüse. Gerichte aus dem Backrohr. Gerne auch Fleisch und Fisch. Das alles kombiniert mit wärmenden oder scharfen Gewürzen. Alles in Summe Gerichte, die uns deutlich einheizen, die ein Gefühl wohliger Wärme im Bauch und im Körper hinterlassen. Das tut ein Mango-Mozzarella-Salat nun einmal nicht, auch wenn er viele Vitamine verspricht. Überhaupt: Rohkost vermeiden. Sauerkraut kann da viel mehr. Die meisten Kohlsorten sind bessere Mikronährstofflieferanten als Südfrüchte. Was das Frühstück betrifft: Dieses sollte natürlich auch warm sein. Warum nicht ein lange vor sich hinköchelnder Haferbrei, mit Trockenfrüchten, gerösteten Nüssen und Zimt? Das mag die Milz im Winter. Das hilft ihr, Wärme und Energie zu produzieren. Klar ist daher auch: Exotisches nur ab und an. Exotisches ist feuchtes, kaltes Holz, das man in den Ofen wirft. Das alles muss natürlich nicht manisch sein. Aber zumindest konsequent. Denn in der Heizperiode drehen wir die Zentralheizung ja auch nicht aus und wundern uns dann, wenn es kalt wird.
Ruhe und Bewegung
Und was ist nun mit den Nieren? Die sind im Osten wie im Westen empfindlich auf Stress. Im Endeffekt ist die TCM mehr eine Alltagswissenschaft, die sich am Zyklus der Natur orientiert. Sowohl was das Angebot der Nahrungsmittel als auch den generellen Lebensstil betrifft und im Winter schaltet die Natur nun einmal einen Gang zurück, während wir Menschen den größten Stress oft im Dezember erleben, in der besinnlichen Zeit, die uns eigentlich einlädt, mit den Sinnen nach innen zu gehen, ruhiger zu werden. Durch gezielte Pausen, vermehrten Schlaf und bewusster Stressvermeidung bewahrt man sich die Vitalität in dieser herausfordernden Jahreszeit und stärkt somit gleichzeitig die Immunität.
Ein bisschen Bewegung darf es aber trotzdem sein, womit wir bei der Funktion der Lunge sind. Regelmäßige Spaziergänge an frischer Luft sind besser als exzessiver Sport oder exzessives Fernsehen. Es geht um sanfte Bewegung, denn in der kalten Jahreszeit geht es vor allem darum, ein bewusstes Energiemanagement zu betreiben, um einen kleinen Überschuss zu bewahren, der an die Abwehrenergie Wei Qi abgegeben werden kann.
Bewusstes Stressmanagement und sanfte Bewegung sind weder neue noch komplexe Erkenntnisse in Bezug auf unsere Immunität, werden aber trotzdem viel zu wenig beachtet umgesetzt. Der größte Beitrag der TCM liegt daher sicher in Bezug auf einen bewussteren Umgang mit unserer Ernährung, auf die Beachtung der thermischen Energie sowie der Zubereitung unserer Speisen. Hier haben wir den wohl größten Hebeln und der Hand, um gesund und vital durch herausfordernde Zeiten zu gehen. Guten Appetit!